W&P Kommentar
München, 21.06.2016

Industrie 4.0 trifft auf Organisation 1.0

Kommentar von Jürgen Michael Gottinger, Mitglied der Geschäftsleitung bei Dr. Wieselhuber & Partner
Jürgen M. Gottinger
Mitglied der Geschäftsleitung 

Der derzeitige Wandel über die digitale Durchdringung beinahe jeder Unternehmensfunktion - von der Produktion bis hin zu Overheadfunktionen wie Unternehmensplanung und Controlling - hat massive Rückwirkungen auf alle Bereiche der Unternehmensorganisation. Betroffen sind Strukturen, Prozesse, Kernkompetenzen und die Führung gleichermaßen. Die Digitalisierung hat dabei eine Doppelfunktion. Sie ist Folge und Ursache für die Veränderungen:
  • Algorithmisiertes Lernen: Lernprozesse als Grund für die organisationale Arbeitsteilung (economies of repeated tasks) werden digital unterstützt, das Lernergebnis ex ante (Fehlerkorrekturen) mit Hilfe von digitalen Devices in veränderte Anweisungen an die Mitarbeiter übersetzt. Lernvorgänge werden beschleunigt, die Arbeitseffizienz gesteigert. Schätzungen gehen von einer Produktivitätssteigerung je nach Branche von 5 bis 30 % aus.
  • Echtzeitumsetzung von Veränderungen in Prozessen: Sukzessive Arbeitsweisen, die als Fundament der Ablauforganisation (was macht wer wann mit welchen Mitteln) die gesamte Geschichte der Organisationspraxis prägen, werden revolutioniert. Aufwändige Schleifen entfallen, da Veränderungen in einem Prozessschritt unmittelbar in Veränderungen der nächsten Prozessschritte umgesetzt werden. Alle arbeiten gleichzeitig an allen Prozessschritten.
  • Transparenz von Leistungen und Beiträgen beteiligter Mitarbeiter: Ob am Band, im Vertrieb, im Einkauf oder in der F&E: Jede Entscheidung hinterlässt einen digitalen Abdruck und wird in Leistungsinformationen an involvierte Mitarbeiter umgesetzt. Verzögerungen und Fehler werden gemeldet und individuell ausgewertet.
  • Dezentralisierung von Entscheidungen: Der digitale Abdruck ermöglicht eine verstärkte Delegation von Entscheidungen, da Konsequenzen in Echtzeit simuliert werden können. Die Führung kann sich so auf strategische Entscheidungen, deren Kontext nach wie vor sehr "unsicher" bleibt, konzentrieren. Für die Mitarbeiter bedeutet dies mehr Flexibilität, weniger Zeitverluste durch Rückversicherung, höhere Kundennähe der Entscheidungen aber auch mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation im Netzwerk.
  • Der Chief Digital Officer ist mehr als nur IT-Chef: Die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens hängt mehr denn je von der strategischen Nutzung der Chancen durch die Digitalisierung ab. Kosteneffizienz, Produktinnovation oder Distribution werden digital unterstützt und optimiert. Der CDO rückt in die oberste Unternehmensleitung auf.
  • Kulturelle Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Organisation: In allen Führungsebenen und Funktionsbereichen des Unternehmens begegnen sich sehr unterschiedliche Mitarbeitergenerationen. "Always on" Mitarbeiter treffen auf "traditionelle" Mitarbeiter. Die Mediation der Führung ist gefragt, die Integration von Werten und Lebensanschauungen wird zu einem wichtigen internen Erfolgsfaktor.


Konsequenzen für die Führungsorganisation - nicht jeder IT-Chef ist ein CDO
Die Bedeutung der Digitalisierung für die strategische Wettbewerbsfähigkeit legt nahe, dass diese in der Top- Managementebene verankert ist. Die Aufwertung der IT zur Digitalisierungsinstanz auf Top-Managementebene ist der richtige Schritt, wenn dort funktionsübergreifendes Know-how für die Chancen und Risiken der Digitalisierung vorhanden ist. Eine entsprechende Stabstelle beim CEO, an der IT- und Digitalisierungskompetenz zusammentreffen und unter einer einheitlichen Linieninstanz implementiert werden, kann eingerichtet werden. In einigen Fällen muss der CEO die Digitalisierungskompetenz von außen zukaufen, um keine Zeit bei der Implementierung neuer Kompetenzen für die Digitalisierung von Wettbewerbsvorteilen zu verlieren. Ob Stab, Linie oder externe Lösung: Die Digitalisierung ist stets mit den Unternehmensfunktionen, gewöhnlich über Projekte, zu vernetzen.


Hierarchien in Gefahr - die Selbstorganisation der Kontrolle gewinnt an Bedeutung

Wesentliches Kennzeichen der Digitalisierung ist die Automatisierung von Prozessen und die Automatisierung von Lernprozessen mit Hilfe von computergestützten Systemen. Kontrollprozesse sind in der digitalen Welt integriert, die Rückmeldung an die Mitarbeiter erfolgt oftmals in Echtzeit. Aufwändige Kontrollprozesse über das Management entfallen. Die Konsequenzen: Weniger externe Kontrolle, weniger Hierarchie. In den produktionsnahen Funktionen werden Kontrollprozesse auf der Ebene der Mitarbeiter ggf. auf Abteilungsebene integriert. Entweder werden die Kontrollspannen der Führung erweitert, Kontrollaufgaben fallen weg, oder Hierarchieebenen werden überfl üssig. Beide Varianten sollten bei der Gestaltung der Führungsorganisation in der Digitalisierungsära überprüft werden. Auch hier ist konzeptionell Eile geboten, um die Kosten der Organisation bzw. ihre Führungseffi zienz anzupassen. Betroffen sind alle Unternehmensfunktionen, sowie Rationalisierungspotenziale in den Overheads.


Matrix war gestern - Prozesse werden über die Digitalisierung wechselseitig vernetzt
Die Einführung der Matrixorganisation war der verbesserten Berücksichtigung funktionaler und marktbezogener Gliederungskriterien der Organisation geschuldet. Nachteil: Aufwändige Koordinationsmechanismen und Kompetenzgerangel mit häufigen Schleifen zwischen den beteiligten Stellen. Die Gleichzeitigkeit der Prozessbearbeitung durch die Digitalisierung wird diesen Nachteil zumindest abschleifen, wenn nicht beseitigen. Über den gleichzeitigen Zugang zu einzelnen Prozessschritten und der automatisierten Anpassung von Veränderungen, entfallen zeit- und kostenraubende Schleifen, die Abstimmung erfolgt auf der Prozessebene und nicht in langwierigen Abstimmungsrunden.


Mediationsfunktion des Top-Managements - Befähigung zur Digitalisierung als Organisationsauftrag
Die Beherrschung der kulturellen Schnittstelle des digitalen Zeitalters zwischen den Mitarbeitern verschiedener digitaler Generationen, die oft nicht mehr als 10 Jahre auseinanderliegen, sollte weit oben auf der Agenda des Top-Managements stehen. Entsprechende Change Management Projekte sind hierfür unerlässlich. Die Veränderung der Unternehmensorganisationen kann derzeit mit dem Tempo der Digitalisierung nicht Schritt halten, zu viele sind noch den Paradigmen des 20. Jhd. verhaftet. Auf Grund der hohen Bedeutung der Digitalisierung für die Wettbewerbs- und Überlebensfähigkeit, besteht für die Gestaltung und Entwicklung der Organisation massiver Handlungsbedarf. Der Schritt auf die Organisation 4.0 ist längst überfällig. 
 
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